Deutschland, Alternativland
14 Mai 2012
Einsicht von Carlo Fisch in Demokratie, Politik, Werte und Normen
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Zusammenfassung
Das Spiel verhüllt die Antworten auf die Sachfragen. Die Selbstdarsteller im Theater der Alternativen werden Politiker genannt aber ihr Handeln ist nur noch selten auf das Gemeinwohl bedacht. 40% Nichtwähler irren sich nicht.
Schlagworte
Alternativen, alternativlos, bürgerlich, Demokratie, Erfolgsstrategien, Liberalität, Parteien, Piratenpartei, Politiker, politische Verantwortung, Unsicherheit, Vertrauen, Wahlergebnisse
Alternativendemokratur
Deutschland ist das Land der Alternativen, wenn es nicht gerade alternativlos ist:
Die Altsozialisten sind die einzige bürgerliche Alternative für die Christdemokraten und anders herum. Die Freidemokraten halten sich für die einzige Alternative zu den Grünbürgerlichen und anders herum. Beide paktieren gerne mit dem Stärksten, um als Junior-Partner in einer Koalition Anteil am Regierungstheater zu erhalten. Die Ex-Kommunisten halten sich für die einzige Alternative zu allen anderen und sind im Übrigen mit sich selbst beschäftigt.
Die Piraten sind das alles nicht. Sie wissen das auch und wollen es auch anders nicht. Sie könnten sich deshalb als einzige mit vollem Recht „alternativlos“ nennen, wenn sie es wollten. Aber auch das wollen Sie nicht, denn sie suchen gerade noch nach dem was sie wollen, – immerhin in vielen Fällen schon recht genau wissend, was sie nicht wollen.
Während sich alle etablierten Parteien in der Darstellung von Alternativen erschöpfen, ergibt sich im Zentrum der Macht ein Vakuum der Führungslosigkeit:
Wenn jeder für jeden nur noch Alternative ist,
wer sagt dann eigentlich,
wohin die Reise gehen soll?
So erlangt der Beobachter dieser berliner Szenerie sehr schnell den Eindruck, dass sich in allen Sachfragen die Richtung eher zufällig ergibt.
Im Alternativhandeln sind die Sachfragen untergegangen.
Die Kompetenz der politisch Tätigen erlangt ihre flüchtige Glaubwürdigkeit in der Darstellung, in der Darstellung von Alternativen und das bürgerliche Lager fühlt sich umworben. Das bürgerliche Wählerlager liebt nämlich die Darstellung klar abgegrenzter Alternativen.
Mittelständische Minderheiten und Liberalität
Bemerkenswert ist, dass alle etablierten Parteien bei ihrer Selbstdarstellung und öffentlichen Positionierung ein großes Gewicht auf das bürgerliche Wählerlager legen, dem sie gefallen wollen. Unsere politischen Führungsreisenden sind überwiegend selbst aus diesem Lager entsprungen. Sie haben vielleicht deshalb noch nicht bemerkt, das dieses Lager so klein geworden ist, dass es keine Wahlen mehr entscheiden kann. Viele Menschen, die sich im bürgerlich konservativen Lager sicher glaubten, haben erkennen müssen, dass die bürgerliche Lüge nur ein Deckmantel war für eine großen Umverteilung der Güter auch zu ihren Lasten. Sie sind heute auf der Suche nach „echten“ Alternativen und stellen den größten Teil der frustrierten Nichtwähler.
Dabei darf nicht vergessen werden, das die Nichtwähler inzwischen mit großem Abstand das größte Wahlvolk darstellen. Zum Vergleich: In NRW wurde am vergangenen Sonntag die SPD Wahlsieger. Sie erhielt Stimmen von 39 Prozent der 60 Prozent Wähler. Die neue Regierung stützt sich also auf gerade einmal 23,4 Prozent des Gesamtwahlvolkes. Wer da noch von Mehrheiten und demokratischem Auftrag spricht, beschönigt den desolaten Zustand unserer Demokratie.
Es gibt keinen nennenswerten Mittelstand mehr in Deutschland. Als Folge entwickelt sich politische und soziale Instabilität. Das ist eine vielfach bewiesene und doch immer wieder ignorierte Erkenntnis aus der Geschichte aller Nationen und Staatsformen.
Auch scheint es bei der aktuellen Lage des Landes wenigstens unsensibel, die eigene Liberalität in das Zentrum der Öffentlichkeitsarbeit zu stellen, wie es derzeit alle etablierten Parteien tun. Es hilft vielleicht diejenigen Liberalen zu bekämpfen, die sich schon immer so nannten, es aber niemals wirklich waren. Es ist aber kein Zeichen für Sensibilität gegenüber den dringendsten aktuellen Aufgaben in diesem Land. Das letzte was Deutschland, lieb Vaterland, derzeit brauchen kann, das ist Liberalität.
Der, der Lösungen für die Not abseits der bürgerlichen Mitte liefern kann, gewinnt die nächsten Wahlen. Wollen wir hoffen, dass kein starker Mann das Vakuum im Zentrum der Alternativrepublick nutzt, um es mit extremen Lösungen zu füllen. Deutschland scheint dafür bereitet, – Europa nicht.
In diesem Artikel verwende ich sehr bewusst NICHT das Wort ‚Liberalismus‘, weil es als Fachwort der Politikwissenschaften eine politische Bewegung bezeichnet, die die Freiheit des Individuums vornehmlich im Verhältnis zur staatlichen Gewalt verteidigt. Hiervon unterscheide ich die ‚Liberalität‘ als allgemeine Grundhaltung, die sich den Begriff ‚Freiheit‘ immer dann zu eigen macht, wenn es einer wirtschaftlich privilegierten Klientel nutzt, ansonsten aber durchaus auch staatliche Gewalt predigt und staatliche Rechtsbeugung zumindest toleriert.
Liberalität ist derzeit schick und immer leicht zu verkörpern. Liberalismus aber ist harte Arbeit, genau so wie Kommunismus und Sozialismus, Buddhismus und Christmus. Alle diese Lehren haben in unserer Zeit keine reale Repräsentation oder Entsprechung mehr und es ist auch fraglich, ob in einer dieser Lehren brauchbare Lösungsansätze für unsere aktuellen Probleme zu finden wären.