Zusammenfassung

Es gibt viele Wege eine Begabung zu leben. Wer seinen Weg findet, der wird mit Zufriedenheit entlohnt.

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Erster Akt

Als schönes Kind vom Lande, lebenslustig und der Welt zugetan, voller Erwartung was als nächstes kommt, wünscht sie sich, eine Weltreise zu machen, ist aber im Alter von siebzehn Lebensjahren schon verlobt.

Ihr Verlobter ist auch ein schöner Mann, ein Lebemann und recht junger Witwer aus der großen Stadt, zwölf Jahre älter als sie und mit einem zweijährigen Kind.

Er verspricht, ihr die Welt zu zeigen, sie zu erlösen aus dem Muff ihres kleinen Geburtsdorfes. Bis es soweit sein wird, darf sie sich um sein Kind kümmern.

Neun Jahre später erst, als das Kind den elften Geburtstag feiert, ist endlich die Hochzeit angesagt, denn nun steht er in der großen Stadt in sicherer Anstellung und kann die kleine Familie ernähren.

Zweiter Akt

Nun ist sie 26 und ihr größter Wunsch soll in Erfüllung gehen: Er wird ihr die die Welt zeigen und zu Füßen legen.

Aber es wird nur seine Welt, seine sehr kleine Welt! Für mehr fehlt die Zeit und das Geld, – beinahe sechzig Jahre lang.

Beinahe sechzig Jahre lang bereitet sie ihrem geliebten Mann sein Heim und gestaltet sein Leben unbelastet von weltlichen Aufgaben. Sie kocht, wäscht, putzt, macht die Bücher, schreibt die Briefe, bekommt kein eigenes Kind und überlebt den zweiten großen Krieg, während er als Künstler und Lebenskünstler mit seiner Kunstfertigkeit das Geld beschafft und sie sichtbar schmückt, – mit seiner leuchtenden Erscheinung und mit Gold und Juwelen.

Die große Welt zeigt er ihr nie. Aber seine Welt bleibt ihr sechzig Jahre lang groß genug, – bis ihre Dienste nicht mehr benötigt werden, weil er stirbt.

Dritter Akt

Jetzt erst entdeckt sie sich und ihre alte Weltsucht neu, – mit 77 Jahren. Sofort nach dem Tode ihres Mannes räumt sie auf und entfernt den größten Teil seines Nachlasses aus ihrer großen, nun, Single-Wohnung, in der sie fünfzig Jahre gemeinsam mit ihrem Mann gelebt hatte. Dann plant sie eine Weltreise mit dem Schiff.

Aber es wird erst einmal nur eine Mittelmeer-Rundreise daraus.

Kurz nach der Rückkehr von der ersten großen Reise in ihrem Leben erblindet sie beinahe schlagartig. Weitere Reisen gleiten in unüberwindbare Ferne.

Ihre letzten neun Lebensjahre erlebt sie im Nebel ihrer Augen, der ihr gerade noch ihre täglichen Verrichtungen in vertrauter Umgebung erlaubt.

Sie stirbt, vor dem Ehebett liegend, das sie sechzig Jahre lang mit ihrem Mann geteilt hatte, zu spät entdeckt nach einem Schlaganfall.

Nachbemerkung

Sie sagen jetzt vielleicht: ‚welch ein trauriger Lebenslauf‘. Aber ist das tatsächlich so? Sie war ein sehr wacher, intelligenter und agiler Mensch, der sicher viele andere Lebensläufe hätte wählen können und der nach heutigen Maßstäben dabei sicher erfolgreich gewesen wäre. Aber hätte ihr ein anderer Lebenslauf auch mehr Befriedigung und Zufriedenheit gebracht? – Wir wissen es nicht. Aber sie hatte zu jedem Zeitpunkt die Wahl, etwas zu verändern und sie tat es nicht.

Es gibt eine Begabung, die heißt dienen. Sie lebte diese ihre Begabung mit größter Leistungsfähigkeit und größtem Leistungswillen und ohne jeden Zweifel an sich oder an der Aufgabe vorbildlich aus. Sie brachte ihr Leben in etwas größeres ein und war dabei so erfolgreich, das sich ihr Stiefenkel mit Achtung und Bewunderung gerne an sie erinnert. Ich glaube sie war erfolgreich und nur selten unglücklich. – Ihr Mann hat wahrscheinlich weniger Zufriedenheit in seiner Lebenszeit erlangt!

Zum zehnten Todestag
einer großen
und liebenswerten Frau
31.07.2009

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