Heilen heißt dienen? – Froh grüßt der Nichtpatient.
02 Februar 2012
Schöne Augen von Carlo Fisch in Gesellschaftsordnung, Gesundheitssystem, Menschen
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Zusammenfassung
Ich glaube, ich bin froh, dass Sie, Frau Doktor, heute entschieden haben, den Termin, auf den ich 6 Wochen gewartet habe, platzen zu lassen. Sie kennzeichnen dadurch die Krankheit unseres Gesundheits- und Gesellschaftssystems. - OFFENER BRIEF AN FRAU DOKTOR
Schlagworte
10 Euro, Arzt, Ärztin, Doktor, Kassenpatient, Kaufmann, Medizin, Menschen, Praxisgebühr

Offener Brief an Frau Doktor
Sehr geehrte Frau Doktor,
leider haben wir uns heute nicht kennen lernen können, obwohl ich ein Termin bei Ihnen hatte. Ihre Praxisorganisation lässt mich jedoch vermuten, dass Sie einen erheblichen Unterschied zwischen Privat- und Kassenpatienten machen; – warum auch nicht, jeder schlaue Kaufmann würde das wohl genau so machen. Mein Eindruck von Ihrer Praxisorganisation lässt mich weiter schließen, dass Sie keine neuen Patienten möchten und dass Sie lieber die Krankheit verwalten, als den hilfesuchenden Patienten ärztlich dabei zu unterstützen, sich von der Krankheit zu befreien.
Ich glaube, ich bin froh, dass Sie, Frau Doktor, heute entschieden haben, den Termin, auf den ich 6 Wochen gewartet habe, platzen zu lassen, weil angeblich inzwischen Irgendetwas meinen Überweisungsschein entwertet hat. – Ich könnte ja 10 Euro Praxisgebühr in bar (nicht mit EC-Karte) bezahlen und von Ihnen eine Überweisung an meinen Hausarzt erhalten, lautete der praxiserprobte Lösungsvorschlag Ihrer Angestellten.
Leider musste ich aber feststellen, dass ich nur Neun Euro und fünfzig Cent bar bei mir führte: Ja, was mir einfiele, ohne Bargeld zum Arzt zu gehen; das würde mir beim Einkaufen ja auch nicht einfallen, rügte mich daraufhin Ihre Sprechstundenhilfe frech und erhielt dabei von ihrer Chefin aus dem Hintergrund Schützenhilfe.
Liebe Damen, lassen sie sich aufklären:
1. Heutzutage gehen die meisten Menschen ohne Bargeld einkaufen. An dieser Tatsache ist nachweislich das Wirtschaftssystem der Welt erkrankt.
2. Sie sind primär kein Kaufmann, sondern vor allem eine Arztpraxis, auch wenn unser krankes Gesundheitssystem Sie etwas anderes glauben machen will: Wahrscheinlich unterliegen Sie dem selben Irrtum wie unser stets bemühter Wirtschaftsminister Dr. Rössner, der glaubt, mit einem Schwur auf den Gott der Kaufleute seinen Eid auf Hippokrates aufzuwerten. Sollte das zutreffen, dann sollten Sie Ihre Praxis schließen und eine Blitzkarriere in der Politik anstreben. Frau Merkel sucht noch ein paar Anpassungsfähige aus der akademischen Bildungselite, die zumindest den Schein bewahren können. Nicht den Überweisungsschein, – nein, nur den Anschein. In Deutschland reicht das inzwischen völlig, um Arzt/Ärztin, Jurist/in, Minister/in, Kanzler/in und sogar Präsident/in zu werden und, mit Rentenansprüchen, sogar lebenslang auch zu bleiben.
Vielleicht sollte man diesen ganzen Regierungskaufleuten einmal erzählen, dass seit den alten Griechen und Römern der Gott der Kaufleute zugleich auch der Gott der Diebe ist. – Aber das ist eine andere Geschichte.
3. Kassenpatienten sind keine Menschen … zweiter Klasse.
4. Die Menschen kommen vorrangig zu Ihnen, Frau Doktor, weil sie krank sind und nicht, um ein Gesundheitsgeschäft abzuwickeln oder einen Verwaltungsakt zu vollziehen. Die Menschen kennen weder Ihre kaufmännischen Bedingungen und Erwägungen, noch Ihre verwaltungstechnischen Aufgaben und abrechnungstechnischen Pflichten und das müssen die Menschen auch nicht. Die Menschen sind auch nicht dafür da, Ihnen oder Ihren Mitarbeitern das Leben zu ermöglichen oder gar zu erleichtern. Die Menschen, die zu Ihnen kommen, sind zuerst Patienten, die bei Ihnen, Frau Doktor, vor allem Hilfe und Rat suchen.
5. Vielleicht sollten Sie erwägen, einen Geldautomaten in Ihrem Wartezimmer aufzustellen, wie es alle erfolgreichen Kaufleute machen. Das wäre mordspraktisch und würde allen Besuchern Ihrer Praxisräume sofort den Geist offenbaren, in dem diese Praxis geführt wird. Aber vielleicht hätte uns ja auch einfach ein EC-Kartengerät genügt?
6. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Als Fachärztin für XXX und YYY haben Sie den denkbar schlechtesten ersten Eindruck hinterlassen als bei meinem ersten Anruf Ihr Telefoncomputer die Eins für private Patienten und die Zwei für Kassenpatienten abfragte, bevor er eine Verbindung herstellte. In Ihrer Praxis haben Sie diesen ersten Eindruck bestätigt.
Sie sollten Ihrem Telefoncomputer besser eine andere längere Ansage beibringen. Hier ein Vorschlag: „Haben Sie an alles gedacht, Sie Patient? Sie warten bei uns im allgemeinen viele Wochen auf einen Termin. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb sehr groß, dass Ihre Überweisung bis zu Ihrem Termin bei uns verfallen ist. Beachten Sie die Regeln für die Gültigkeit von Überweisungen und holen Sie sich gegebenenfalls kurz vor Ihrem Termin von dem überweisenden Arzt eine neue Überweisung, wenn Sie dort einen Termin dafür erhalten, oder bringen Sie wenigstens 10 Euro Bargeld mit, falls Sie zu diesem Zeitpunkt nicht… Sollten Sie so krank sein, dass Ihnen beides nicht möglich ist, dann machen Sie Ihren Termin bitte nicht bei uns.“
7. Wären Sie ein Kaufmann, Frau Doktor, dann würden Sie den „Kunden als König“ kennen und schätzen und Sie wüssten die Worte „wie kann ich Ihnen dienen“ freundlich und mit Freude zu leben. Sie aber haben den eigentlichen Sinn des griechischen Wortes „Therapie“ vergessen oder verdrängt. Bei Ihnen ist der Patient weniger als ein Kunde und er steht unter dem Generalverdacht, ein potentieller Betrüger zu sein. Auch mit dieser Übung haben Sie sich für die aktuelle Regierungsarbeit qualifiziert, die den Bürger, also den Souverän unseres Staates, unter jeden negativen Generalverdacht zu stellen sucht.
Frau Doktor, Sie wissen, dass Sie etwas richtig gemacht haben, wenn Sie um neun Uhr in Ihre Praxis kommen und kein Kunde, nein, kein Patient wartet auf Sie: Entweder sind sie alle genesen oder beim freundlichen Kaufmann nebenan.
Ich danke Ihnen für diesen weiteren, sehr aufschlussreichen Eindruck, den ich durch Sie gewinnen konnte, von der Krankheit unseres Gesundheits- und unseres Gesellschaftssystems, in denen es nicht angeraten ist, ernsthaft zu erkranken.
Durch Ihre Entscheidung heute haben Sie es mir leicht gemacht, die Frage zu beantworten, ob ich Ihnen vertrauen kann. Ich bin Ihnen deshalb dankbar.
Froh grüßt Sie
Ihr Nicht-Patient
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http://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft/praxisgebuehr-abschaffen-,10808230,11667782.html Daniel Baumann brachte die Folgen der Praxisgebühr schon in seinem knappen Beitrag in der Berliner Zeitung vom 20. Februar 2012 auf den Punkt und lieferte dabei auch ein paar interessante Zahlen ...
1 Kommentare
24. Oktober 2012 um 18:36 Uhr
Während die Krankenkassen auf Rekordüberschüssen sitzen, hält die Praxisgebühr Kranke mit wenig Geld von Arztbesuchen ab. Die Praxisgebühr hat ihr Ziel vollständig verfehlt: statt die Ausgaben für unnötige Behandlungen zu senken, hält die Praxisgebühr vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen von notwendigen Arztbesuchen ab. Die Praxisgebühr gefährdet auf diese Weise die Gesundheit dieser Menschen und provoziert gigantische Folgekosten durch die verspätete Einleitung von Therapiemaßnahmen. Jetzt gibt es die Chance die Praxisgebühr abzuschaffen: Angesichts eines Überschusses von 21 Milliarden Euro bei den gesetzlichen Krankenkassen will neben der Opposition auch die FDP die Praxisgebühr abschaffen.
Jetzt blockiert also nur noch die CDU/CSU-Union die längst überfällige Abschaffung! Beim Koalitionsausschuss am 4. November 2012 wird es entschieden.
Ich habe deshalb gerade online einen Appell für die Abschaffung der Praxisgebühr unterschrieben. Unterzeichnen auch Sie den Campact-Appell:
https://www.campact.de/Praxisgebuehr-Aktion
Beste Grüße
Carlo