Zusammenfassung

Für Süchtige ist die Selbsthilfe nicht immer so einfach zu finden, wie es hier auf den ersten Blick erscheint. - [R2]

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Ferdinand Lassalle 1860

Warum ich heute Abend hier bin?

Ich heiße Horst und ich habe in dieser Woche insgesamt 90 Minuten geredet. Das war während eines Termins mit meiner Rechtsanwältin. Es war ein echter Dialog in einem ergebnisoffenen Gedankenaustausch und in schierem Deutsch, ein wenig durchwirkt vom Fachjargon der Juristen, dennoch erstaunlich erträglich und mit den typisch deutschen Satzbauten lateinischer Prägung, durch die sich einst der Intellektuelle vom weniger Intellektuellen, der Belesene vom weniger Belesenen unterscheiden ließ.

Ganz erstaunlich, ein solches Gespräch mit einem Juristen führen zu können, treffen sich statistisch doch gerade im Berufsstand der Juristen besonders viele Menschen mit früher Schreib- und Leseschwäche. Aber es muss auch nicht unbedingt ein Makel sein, wenn sich die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und/oder -willigkeit erst verspätet einstellt. Es könnte auch das Zeichen einer intensiven und wundervollen Erlebniswelt des Kindes sein, die mit der herkömmlichen Sprache nicht zu erschließen und zu vermitteln ist. Warum sollte also ein Kind eine so mangelhafte Sprache lernen wollen.

Die kulturelle Welt einer Sprachgemeinschaft zerfällt in die verschiedensten Erlebniswelten, die durch die Sprache entweder vermittelt werden können, oder auch nicht. Sprache ermöglicht der kulturellen Gemeinschaft ein gemeinsames Verständnis von der Welt zu entwickeln und sich über eine Fortentwicklung zu einigen. Dort, wo Sprache aber nicht mehr dazu geeignet ist, die Erlebniswelten der Individuen mitteilbar und transparent zu machen, dort entwickeln sich Rand- und Außenseiterkulturen, mit eigenem Jargon oder eigener Fachsprache.

Die Zahl der Worte in einer Sprache nimmt in dem Verhältnis zu, in dem das kulturelle Verständnis abnimmt und mit ihm das Gemeinsame, die Verbindlichkeit, die Empathie und die Verantwortung. Am Ende ist der Mensch dem Menschen erneut fremd und zu einem wertlosen Ding geworden, weil der Mensch dem Menschen weder durch die Erlebniswelt noch durch die Sprachwelt verbunden ist.

Ja, früher war auch das einfacher. Jeder wusste, wo er hingehörte, ohne Hut und Mantel, alleine durch die öffentliche Sprechweise. Wenn ein Ferdinand Lassalle mit einem Karl Marx stritt, dann teilten sie die Denk- und die Sprachwelt der selben alten Griechen und den selben, lateinisch beeinflussten, deutschen Satzbau.

Einander angemessen zu begegnen, ist heute nicht mehr ganz so einfach.

Der, der heute den so genannten elaborierten Kode der gebildeten Gesellschaftsschichten praktiziert, der gibt sich den Anschein der kulturellen Überlegenheit, beinahe wie ein Snob. Das ist heutzutage nicht mehr en vogue, nicht mehr zeitgemäß, glaubt der Snob inkognito. Der moderne, angepasste Snob ist deshalb Jemand, der seinen sozialen Rang kennt, seine Überlegenheit aber nicht zeigt, Jemand, der die Inklusion der neuen Deutschen noch nicht ernst nimmt und der glaubt, er könne sich abgrenzen vom modernen Proletarier ohne bezahlten Arbeitsplatz. Wer etwas darstellen will, der gibt sich integrativ, volksnah und spricht ein wenig Mundart in kurzen einfachen Sätzen. Das kommt derzeit überall gut an. Vielleicht kann sogar ab und zu ein englisches Wort in einen deutschen Satz eingebaut werden, damit zeigt sich einer als besonders weltoffen und willkommenskultiviert.

Dazu hatte ich aber in dieser Woche keine Lust.

Nach dem schönen Gespräch mit meiner Rechtsanwältin am Montag habe ich nicht mit meiner russisch-stämmigen Nachbarin auf der Treppe gestanden, um Klagelieder auszutauschen über unseren polnisch-stämmigen Nachbarn aus dem dritten Stock, der immer mitten in der Nacht nach Hause kommt und meint, es müsse jeder Mitbewohner wissen, und ich habe auch keine Klagelieder gehört über unsere vietnamesisch-stämmige Nachbarfamilie aus dem ersten Stock, die regelmäßig ihren Küchendampf durch die geöffnete Wohnungstür ins Treppenhaus entlassen muss, statt durch ein geöffnetes Fenster in den Hof.

Dazu hatte ich in dieser Woche keine Lust.

In dieser Woche habe ich 90 Minuten Dialog mit meiner Rechtsanwältin gestaltet und im übrigen habe ich geschwiegen. Ich hatte einfach nichts zu sagen! Ich war viel mehr voll und ganz damit beschäftigt, die wundervollsten Sätze unserer deutschen Sprache zu erinnern und in mir zum klingen zu bringen. Ich war damit beschäftigt, meine Erinnerung von einer Quelle zur nächsten, von einem Autor zum nächsten wandern zu lassen, auf der Suche nach der nächsten Berührung, der nächsten Entzückung, die sich in meinem Bücherschrank finden lies.

Ich hatte am Montag Abend ein wenig von der wundervollen Sprache meines Hermann Hesse gekostet und war auf dem Weg zu Roger Willemsen zufällig von einem​ alten Heinrich Böll gefangen worden. Sie hatten in mir meine Erinnerung an deutsche Sprache zum Klingen gebracht und erneut meinen Durst nach mehr entfacht. Ich wählte deshalb für den Rest der Woche die Isolation als geeignetes Mittel, um meine rückwärts gewandte Sucht auszuleben und ganz auszukosten, mit Goethe und Schiller, mit Stefan Zweig, Erich Fromm und Hans Jonas, ganz ohne Korrektsprech und ohne Battlemission, ohne Challenge, Jobcenter und Smart-TV und ohne dieses Gendersprech, das Genus und Sexus nicht unterscheiden will.

Hallo, ich heiße Horst und ich bin süchtig! – Hallo Horst!

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