Schönwetter-Zeugin der Anomie
09 September 2012
Ansicht von Carlo Fisch in Demokratie, Gesellschaftsordnung, Politik, Werte und Normen
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Zusammenfassung
Anomie nennt der Soziologe einen Gesellschaftszustand, in dem soziale Normen und Regeln schwach sind oder gänzlich fehlen und in dem die öffentliche Ordnung, die das Zusammenleben der Menschen ermöglicht, gefährdet oder verloren ist.
Schlagworte
Ablass, Anarchie, Anomie, Demokratie, Kaufmann, Ochlokratie, Ordnung, Recht, Unrecht, Unsicherheit, Verantwortung, Vertrauen, Widerstand
Inhalt
Die Schönwetter-Zeugin
Die Schönwetter-Zeugin arbeitet im Sonnenschein, dort, wo die Unordnung ein lukratives Geschäft ist. Wissen Sie was ich meine? Schauen Sie selbst. Auch Sie werden die Schönwetter-Zeugin kennen.
Die meisten Menschen kennen die Schönwetter-Zeugin wegen ihrem betont freundlichen Wesen und wegen ihrer Ordnungsliebe. Nach dem ersten Kontakt gefragt, erinnern sich diese Menschen zuerst an einen kleinen, ermahnenden Zettel, dem bald darauf ein Brief folgte, in dem die Schönwetter-Zeugin eine Nummer wurde, die ihren Preis hat.
Immer, wenn die Schönwetter-Zeugin Ihre Zeugin wird, dann offenbart sie ihre amtliche Nummer. Sie weiß aber trotzdem nicht, dass sie eigentlich vor allem eine Zeugin der Ochlokratie ist, die mit ihrem „Strafzettel“ regelmäßig vor allem ein Zeugnis für den bedauernswerten Zustand unserer Gesellschaftsordnung ab gibt.
Meine Zeugin
Meine Zeugin hat die Nummer 199. Wir haben uns noch nie gesehen, kennen uns aber inzwischen recht gut. Ich bin der, der mit seinem Fahrzeug regelmäßig gegen die Ordnung verstößt, um die Unordnung zu vermeiden. Das hat Zeugin 199 noch nicht verstanden. Deshalb freut sie sich, mir regelmäßig einen von ihren kleinen weißen Computerzetteln an die Windschutzscheibe heften zu können, denn so dokumentiert sie zugleich auch ihren eigenen Fleiß.
Warum Zeugin 199 kein Einsehen in die Folgen ihres Handelns hat und ihren Ermessensspielraum nicht nutzt, das kann ich nicht sagen. Vielleicht liegt es ja auch gar nicht an ihr, sondern vielmehr an ihrer Aufgabe:
Die Zeugin 199 soll schließlich nicht für die Einhaltung der Ordnung sorgen. Sie soll die Unordnung zu einem lukrativen Geschäft für die Gemeinde machen und das heißt vor allem kassieren wo es geht und so viel es geht.
Das ist offensichtlich so, denn bei schlechtem Wetter liegt der Gemeinde plötzlich nicht mehr sehr viel an der Durchsetzung der Ordnung. Ich vermute, weil bei schlechtem Wetter weniger Menschen unterwegs sind, gibt es weniger Ordnungswidrigkeiten und deshalb lohnt sich der Personaleinsatz nicht. Aber vielleicht ist Zeugin 199 ja auch nur wind- und wasserscheu.
Mein Schmunzeln vergeht
Eigentlich könnte man über alle diese neuzeitlichen Zusammenhänge mit einem Schmunzeln hinweg gehen. Aber dieses Beispiel ist tatsächlich nur eines von unzähligen, die alle Zeugnisse eines bedenklichen Zustandes unserer Gesellschaft sind. Da missbraucht jemand regelmäßig den Ordnungswunsch der Menschen, um daraus ein großes Geschäft zu machen, und ich soll schmunzeln? Da etabliert jemand im Zentrum unserer Gesellschaft die Ordnung als jederzeit disponibles Handelsgut und ich soll darüber hinweg gehen? Da gibt jemand der Ordnung einen Preis und entzieht sie zugleich jedem Rechtsverständnis, ja, sogar jedem normalen Rechtsweg, und mich soll es nicht kümmern?
Das Geschäft mit der Ordnung ist so lukrativ, dass es viele Gemeinden verpachtet haben an private Dienstleister, die wissen, wie die Ordnungswirtschaft effektiv ausgebaut und effizient und gewinnbringend gestaltet werden kann.
Noch erscheint Ihnen das Ganze wenig bemerkenswert? Das ändert sich, wenn ich Ihnen verrate, dass die Straßen- und Tiefbauämter und auch die Ordnungsämter oft nicht mehr wissen, wo ein Verkehrszeichen steht und warum, denn es sind die ungelernten Mitarbeiter von effizienten privaten Firmen, die heute einen großen Teil der Verkehrsordnung durch ihre Schilder bestimmen. Da wird ein Schild an der falschen Stelle aufgestellt oder zu früh oder in unklarer Kombination oder es wird vergessen und es kam zum Unfall. Haben Sie in einer solchen Situation schon einmal versucht, ihre Unschuld zu beweisen oder den eigentlichen Verursacher haftbar zu machen?
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Ordnung und ihre Zeichen zu keinem Zeitpunkt verlässlich sind, dass sie zufällig funktionieren und wenn sie nicht funktionieren, nicht einklagbar sind. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Ordnungsbegriffe und die Ordnungsregeln nur noch für jene gelten, die sich daran halten wollen oder daran halten müssen, weil sie es sich nicht leisten können den Preis der Ordnungswidrigkeit zu bezahlen. Dabei ist es im Prinzip völlig egal geworden, ob man sich an die Ordnungsregeln hält. Die Ordnungslust der Ordnungsablasshändler schlägt zufällig und wie ein Schicksalsschlag zu und sie erwischt jeden, der nicht schnell genug flüchten kann.
Auf diese Weise wird der Bürger in einer fatalen Grundhaltung zu seiner Gesellschaftsordnung geschult und regelmäßig konditioniert:
Ordnung ist ein Schicksal, dem ich mich durch Flucht entziehen kann.
Unordnung muss man sich nur leisten können.
Unordnung ist ein Markt und ein gutes Geschäft.
Ordnung ist im übrigen sinnentleert, zufällig und unzuverlässig.
Nicht anders halten es die Politiker und Regierungstäter in diesen Tagen in allen Fragen. Jede Ordnung ist zu einem Handels- und Tauschgut verkommen. Ja, die Unordnung wird von den Politikern und Regierungstätern sogar als „Liberalisierung“ und Errungenschaft gefeiert und zu einem Gesellschaftsziel stilisiert.
Haben Sie schon einmal gefragt, wie viele Ordnungen es in unserem Staate gibt, und welchen Handelswert sie verkörpern? Ich sage Ihnen im Börsendeutsch: „Darin ist noch viel Phantasie.“
Wenn andere Abhilfe nicht möglich ist
Ja, heißt das nicht, dass wir in der Anomie (http://de.wikipedia.org/wiki/Anomie) (nicht „Anarchie„!) angekommen sind? Will es denn nicht einmal die Bildzeitung beim Namen nennen?
Wenn Recht und Ordnung ausschließlich aus der Willkür des Stärkeren heraus praktiziert werden, dann sind sie nicht mehr Recht und Ordnung sondern Willkür. Bestätigt sich in diesen Tagen die Vermutung der alten Griechen? Deren Staatsphilosophen beschrieben den Zerfall der Demokratie als Ochlokratie, die eine Entartung der demokratischen Staatsform darstellt, in der die Sorge um das Gemeinwohl dem Eigennutz und der Habsucht Platz gemacht hat.
Wenn aber Recht zu Unrecht wird, weil die Ordnung zur Unordnung gerät, dann wird Widerstand zur Pflicht und diese Pflicht hat in Deutschland sogar einen rechtlichen Rahmen, verbürgt im Artikel 20 des Grundgesetzes:
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.